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Hand, die heraus erreicht
Therapeutische
Empfindungen

Kennen Sie autogenes Training oder praktizieren Sie Qi Gong? Sind Sie vielleicht schon einmal akupunktiert worden? Dann kennen Sie wahrscheinlich das Phänomen der therapeutischen Empfindungen aus eigener Erfahrung. Der Begriff beschreibt körperliche Empfindungen, wie Wärme, Kribbeln, Druck, Taubheit und Fließen, die im Rahmen von Mind-Body-Therapien oder -Übungen auftreten. Zu dieser Gruppe zählen neben den oben genannten auch Yoga, Meditation, Akupressur, bestimmte Formen der Massage und manuellen Therapie, verschiedene Entspannungsübungen, sowie Reiki und andere Formen des Handauflegens. Auch die körperorientierte Psychotherapie mit ihren sehr unterschiedlichen Verfahren kennt therapeutische Empfindungen. Dort werden sie vegetatives Strömen genannt.

Therapeutische Empfindungen können zum einen bei Personen auftreten, die trainieren bzw. behandelt werden. Zum anderen spüren aber auch viele Behandler*innen ähnliche Empfindungen, wenn Sie beispielsweise bei der Akupunktur die Nadeln einstechen oder wenn Sie Patient*innen die Hände auflegen. Die folgenden Zitate verdeutlichen dies. Sie entstammen unterschiedlichen wissenschaftlichen Studien (siehe hier), in denen Menschen nach ihren Empfindungen im Zusammenhang mit bestimmten Therapien befragt wurden.

Hand, die heraus erreicht

"Ich spüre ein Gefühl von Frieden, Ruhe und Wärme im ganzen Körper wenn ich den Raum betrete. Es ist ein kribbelndes Gefühl, das wie ein Strom über mich fließt."

Tai-Ji-Quan-Praktizierender

nach dem Training;

aus Raingruber et al. 2007

"Es ist ein ziemlich bizarres Gefühl, das ich noch nie zuvor hatte."

Patient nach

Akupunkturbehandlung;

aus Griffith et al. 2005

"Ein Gefühl von Wärme und Kribbeln in den Gliedmaßen. Das ist normalerweise während der Behandlung, aber nicht sofort. Es dauert ein paar Minuten..."

Patient nach einer Scheinakupunkturbehandlung;

aus Kerr et al. 2011

Ähnliche Beschreibungen gibt es aus unzähligen anderen Therapie- und Übungssystemen. Obwohl es sich also um ein weit verbreitetes Phänomen handelt, interessiert sich die moderne Medizin kaum dafür. Allenfalls sind ungewöhnliche Empfindungen dort ein Kuriosum, wenn sie etwa als Symptom einer Geisteskrankheit (als sogenannte Zönästhesien) auftreten. Ganz allgemein haben seit dem Siegeszug der Hightech-Diagnostik Beschreibungen körperlicher Empfindungen, wie sie die Patient*innen äußern, kaum noch Bedeutung. Da sie naturgemäß subjektiv und damit nur schwer zu messen sind, erfüllen sie schlichtweg nicht die Anforderung der evidenzbasierten Medizin.

Am Insula-Institut untersuchen wir therapeutische Empfindungen, weil wir überzeugt sind, dass ihnen eine zentrale Bedeutung beim Verständnis sowohl traditioneller Medizinsysteme als auch moderner körperorientierter Therapien zukommt. Der Schlüssel liegt dabei in ihrer Bedeutungsdimension, also darin, was Menschen mit ihnen verbinden. Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum in der Heilkunde so oft von Energie die Rede ist, wenn man den Bereich der konventionellen Medizin verlässt? Der Grund ist, dass viele traditionelle Therapiesysteme eine Art Lebensenergie postulieren, die unseren Körper durchfließt. Naturwissenschaftlich möchte man derartige Vorstellungen gern ins Reich der Phantasie verbannen, da es bisher keinen anerkannten experimentellen Nachweis irgendeiner Form von Lebensenergie gegeben hat. Der sogenannte Vitalismus, also die Vorstellung, dass Dinge je nachdem, ob sie einen "Lebensstoff" enthalten, zur lebendigen oder toten Materie gehören, gilt schon lange als überholt. Warum aber glauben trotzdem so viele Menschen daran?

Hier kommen die therapeutischen Empfindungen ins Spiel. Fragt man nämlich Therapeut*innen der o.g. Medizinsysteme oder ihre Patient*innen, woher sie denn wissen, dass bei der Therapie Energie durch ihre Körper fließt, so erhält man sehr häufig die Antwort "Weil ich es spüren kann." Die Beschreibungen sind dabei auffallend ähnlich und laufen meist auf Empfindungen von Wärme, Kribbeln, Druck oder Fließen hinaus, die diese Menschen intuitiv mit energetischen Prozessen in Verbindung bringen. Aber auch komplexere Empfindungen, wie "Wind, der durch den Körper bläst", sind keine Seltenheit, wie die folgenden Zitate zeigen.

Hand, die heraus erreicht

"Ich hatte den Eindruck, dass ich ein subtiles Kribbeln, einen Energiefluss, durch meinen ganzen Körper steuern konnte."

Praktizierende der

Vipassana-Meditation;
aus Smolka 2017

"Man kann spüren, wie sich der Wind im Körper dreht ... es war, als ob sie den Wind in meinem Körper hin und her jagen würde."

Patient nach Behandlung

durch Handauflegen;

aus Soundy et al. 2015

"Ich spürte immer die Wärme, die aus den Händen des Therapeuten strömte, in jeder Sitzung habe ich sie gespürt."

Pflegeschülerin nach Behandlung

durch Handauflegen;

aus Possani Medeiros et al. 2019

Assoziationen wie die des Windes mögen im ersten Moment schwer nachzuvollziehen sein, wenn man selbst nie etwas ähnliches gespürt hat. Sie sind jedoch keineswegs Einzelfälle. Wissenschaftlich sind sie jedoch von großer Bedeutung, um sich bestimmten Konzepte der traditionellen Medizin inhaltlich anzunähern. Wenn heutige Patient*innen die Empfindungen während der Therapie mit Wind in Verbindung bringen, so ist es zumindest vorstellbar, dass vor Jahrtausenden Heilkundige durch ähnliche Beschreibungen ihrer Patient*innen zu bestimmten Ideen angeregt wurden, die sich dann in aus heutiger Sicht schwer verständlichen Theorien, wie Wind als Auslöser von Krankheit, niederschlugen. Hier eröffnen sich unter Umständen ganz neue Ansätze zur wissenschaftlichen Untersuchung.

Ein weiterer Grund, warum therapeutische Empfindungen von großer Bedeutung für das Verständnis der traditionellen Medizin sind, ist die Ähnlichkeit ihrer körperlichen Muster mit bestimmten theoretischen Elementen, die von der modernen Wissenschaft oft missverstanden werden, da sie sich nicht 1:1 in anatomische Strukturen übersetzen lassen. Hierzu gehören etwa die Leitbahnen der Chinesischen Medizin (chin.: 脈, mai oder 经络, jingluo) oder die Chakren (Sanskrit: चक्र, cakra) der hinduistischen bzw. buddhistischen Meditation.

Um diese Ähnlichkeit zu erkennen, muss man therapeutische Empfindungen und ihre körperlichen Muster allerdings zuerst "sichtbar" machen. Dies gelingt mit der sehr einfachen und kostengünstigen Methode der digitalen Empfindungszeichnung. Bei dieser Weiterentwicklung der klassischen Schmerzzeichnung lässt man Behandelte oder Praktizierende mit Hilfe eines Tablet-PCs eine digitale Zeichnung ihrer Empfindungen auf einem Körperumriss anfertigen. Diese können dann verglichen und sogar statistisch analysiert werden.

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In der obigen Abbildung sehen wir Beispiele solcher Zeichnungen (blaue Bilder), wie sie Patient*innen angefertigt haben, die mit systemischer Autoregulationstherapie behandelt wurden. Obwohl diese fünf Patient*innen sich nie gesehen und an verschiedenen Tagen unabhängig voneinander gezeichnet haben, ähneln sich ihre Zeichnungen und damit auch ihre Empfindungen in bemerkenswerter Weise. Am rechten Rand (rotes Bild) ist der Verlauf der in diesem Bereich verlaufenden Leitbahn "Hand Tai Yang" dargestellt, die auch als "Dünndarm-Leitbahn" bekannt ist. Ihr Zickzack-Verlauf ergibt sich aus der historischen Tatsache, dass die Konzepte von Leitbahnen und Akupunkturpunkte sich unabhängig voneinander entwickelt haben und erst später gefordert wurde, dass beide Teil eines gemeinsamen Konzepts seien. Wer sich für den ursprünglichen Verlauf ohne Zickzack interessiert, findet diesen hier.

Am Insula-Institut untersuchen wir die Theorie, dass linienförmige therapeutische Empfindungen zentral für das Verständnis des Leitbahn-Konzepts der chinesischen Medizin sind.  Ähnliche Konzepte finden sich unter anderem in der altindischen Medizin in Form der sogenannten Nadis (Sanskrit: नाडि, nadi).

Die Erforschung der therapeutischen Empfindungen steht noch ganz am Anfang. Einen Überblicksartikel des Autors zum Thema können Sie hier herunterladen. Zu den wichtigsten ungeklärten Fragen, die wir am Insula-Institut beantworten wollen, gehört unter anderem, welche Bedeutung therapeutische Empfindungen für den Therapieerfolg haben; ob es sich wirklich um ein universelles Phänomen handelt, welches über alle Mind-Body-Therapien hinweg in ähnlicher Form auftritt; warum manche Systeme, wie die chinesische Medizin, therapeutischen Empfindungen große Bedeutung beimessen, während andere, wie das Yoga, sie kaum beachten; oder welche Regionen unseres Nervensystems für ihre Entstehung verantwortlich sind.

Literatur:

F. Beissner, “Therapeutic Sensations: A New Unifying Concept,“ Evidence-Based Complementary and Alternative Medicine, Volume 2020, Article ID 7630190, 15 pages. Link.

V. Griffiths and B. Taylor, “Informing nurses of the lived experience of acupuncture treatment: a phenomenological account,” Complementary Therapies in Clinical Practice, vol. 11, no. 2, pp. 111–120, 2005. Link.

C. E. Kerr, J. R. Shaw, L. A. Conboy, J. M. Kelley, E. Jacobson, and T. J. Kaptchuk, “Placebo acupuncture as a form of ritual touch healing: a neurophenomenological model,” Consciousness and Cognition, vol. 20, no. 3, pp. 784–791, 2011. Link.


S. Possani Medeiros, A. C. Calçada de Oliveira, D. Roggia Piexak, L. Lemos Silva, A. M. Netto de Oliveira, andN. Cerutti Fornari, “Perception of nursing undergraduate student about receiving the therapeutic touch,” Revista de Pesquisa: Cuidado e Fundamental, vol. 11, no. 2, 2019. Link.

B. Raingruber and C. Robinson, “The effectiveness of Tai Chi, yoga, meditation, and Reiki healing sessions in promoting health and enhancing problem solving abilities of registered nurses,” Issues in Mental Health Nursing, vol. 28, no. 10, pp. 1141–1155, 2007. Link.

M. Smolka, “Translating between Buddhism and neuroscience: conceptual differences and similarities in epistemic cultures. Neuroscientific research on Vipassana meditation–a case study,” The Self-Journal of Science, p. 647, 2017. Link.

A. Soundy, R. T. Lee, T. Kingstone, S. Singh, P. R. Shah, and L. Roberts, “Experiences of healing therapy in patients with irritable bowel syndrome and inflammatory bowel disease,” BMC Complementary and Alternative Medicine, vol. 15, no. 1, 2015. Link.

Literatur
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